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Tango Kolumne
Dem Tango verfallen

 

EINBLICKE IN DIE TANGOSZENE: Teil 77 DER REIHE VON LEA MARTIN

Kolumne Dem Tangoverfallen von Lea Martin

Tango hat mich verändert. Dieser Tanz, der vor Sehnsucht vibriert, hat in mir eine Blockade gelöst. Ich bin unbekümmerter, mutiger, selbstbewusster geworden. Aus Ich träume wurde Ich will. Ich will etwas zurückgeben von dem, was das Leben mir schenkte, und meinen Beitrag leisten für eine Welt des toleranten Miteinander. Ich will meine Kreativität nutzen und mein Vertrauen in mich selbst, das ich langsam entdecke. Ich will nicht aufhören klitzekleine Ochos und wilde Boleos zu tanzen und meine Beine zu schwingen, als wären sie Flügel. Ich will das, obwohl ich keine zwanzig mehr bin und nie einen Traum haben wollte, der meinen Körper zur Voraussetzung hat. Doch nicht umsonst lautet einer der Postkartensprüche, die ich nicht müde werde zu sammeln: Lebe dein Ändern. Die verträumte, lebensbejahende Atmosphäre, die Milongas in Berliner Hinterhöfen durchzieht, bildet eine Oase verspielter Selbstbesinnung im Trubel des zunehmend digitalisierten Alltags mit seinen materiellen Herausforderungen und seinem Stress, die jeden Gast freundlich in Empfang nimmt. Ich musste einen weiten Weg zurücklegen, bis der Tango Argentino mich fand und das Kind in mir wieder zum Leben erweckte, das an der Ballettstange die Beine dehnte und Pirouetten auf Spitzenschuhen drehte.

 

Tango Argentino erfüllt meine kindliche Sehnsucht zu tanzen und lacht über die Angst zu versagen. Wie die Heldin des Films Die Frau, die sich traut nach einer Krebserkrankung ihre Rolle der aufopferungsvollen Mutter verlässt, um dafür zu trainieren, den Ärmelkanal zu durchschwimmen, entwerfe auch ich mein Leben neu. Der Tango bestärkt mich darin, an mich zu glauben und darauf zu vertrauen, dass ich erreiche, was ich mir vornehme, in meiner ganz eigenen Gangart. Und weil das so ist, weil Tango mir etwas gibt, was keine Freundschaft, keine Liebe, keine Therapie mir so jemals gab: Vertrauen in meine eigene Energie, meine Musikalität, meine Lust an tänzerischer Bewegung, an Dialog, bin ich ihm verfallen, ja, verfalle ihm immer mehr. War die Faszination anfangs eher zögernd und ambivalent, lasse ich mich zunehmend entschiedener ein auf diese zauberhafte Welt voll magischer Anziehungskraft, deren größte Herausforderung darin besteht, dass sie sinnlich und körperlich ist, vergänglich und zeitlich begrenzt. Ja zu sagen zu der vergänglichen, sinnlichen Seite des Lebens, das ist, wozu Tango mich herausgefordert hat – und was ich genieße.

 

"Dem Tango verfallen" aus „Tango Dreams“

 

Alle Rechte (Text) bei Lea Martin, Berlin 2019
Foto: tango-argentino-online.com

 

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