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Kolumne
Kann man Tango verlernen?

 

EINBLICKE IN DIE TANGOSZENE: TEIL 7 DER REIHE "IN LOVE WITH TANGO" VON LEA MARTIN

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Tango im Herzen ist schön und gut, aber getanzt wird dann doch mit dem Körper. Wenn man diesen monatelang nicht trainiert, rostet er ein. Es stellt sich also die Frage, ob man Tango verlernen kann — nicht im Kopf, sondern im Körper. Die langen Tangonächte, die für Kondition gesorgt haben, sind durch Corona abgelöst von mehr Schlaf. Jetzt, wo die ersten Tangoschulen wieder vorsichtig öffnen, frage ich mich, wie es sein wird, wieder zu tanzen, und mache mich auf die Suche nach einem vorbereitenden Online-Angebot.

 

Beim Googeln stoße ich auf das Format »Only you« aus Leipzig. In jeweils 15minütigen Sequenzen bietet Angela Technik-Übungen zu Haltung, Gehen, Gewichtswechsel und Boleos an (die sie mit »V« schreibt). Zum ersten Mal seit Corona ziehe ich meine Tangoschuhe an, stelle mich aufrecht vor den Fernseher, spüre den imaginären Faden, der an meinem Kopf zieht, lausche dem weichen Thüringischen Akzent der Stimme, die mir die Verbindung zum Boden erklärt. Diese Verbindung ist eins der Geheimnisse des Tangos, vielfach erklärt, vielfach missverstanden. Jedenfalls von mir, die ich im Sternzeichen des Feuers geboren bin und immer nach oben will, am liebsten fliegen. Dass dieses Gefühl zu fliegen aus dem Kontakt zum Boden rührt, ist ein Zusammenhang, der die Lehre von der Dialektik bestätigt. Jeder Marxist hätte seine Freude daran, jede Marxistin auch.

 

Die Frau im Fernsehen hat flache Schuhe an, ich stehe auf Absätzen. Die Absätze machen es schwer, den Boden zu spüren. Ich ziehe die Schuhe aus und kann ihn spüren. Es ist leichter, eine Ferse mit den Boden zu verbinden, um sich abzudrücken, für einen Vorwärtsschritt, wenn die Ferse den Boden berührt, als dasselbe aus sieben, acht oder gar neun Zentimeter Entfernung zu tun. Als ich angefangen habe, Tango zu lernen, habe ich deshalb am liebsten barfuß geübt. Für meinen Körper ist das der angenehmere, weichere Tango. Es erinnert mich an das Ballett, das ich als Kind getanzt habe. Ballettänzerinnen tanzen auch auf flachen Schuhen. Die hohen Absätze erzeugen einen Druck, den meine Wirbelsäule ausgleichen muss. Ich empfinde das als irritierend. In der Tanzpause habe ich eine neue Sensibilität für Dinge entwickelt, die vorher normal waren. Den Boden ohne Absatz zu spüren, ist ein Genuss, der mich zum ersten Mal mit dem Gedanken spielen lässt, das Führen zu lernen. Die Frage, wie ich durch sieben Zentimeter Entfernung den Boden spüren kann, hebe ich mir für die Nach-Corona-Zeit auf. Oder aber ich probiere nächstes Mal ein Zoom-Angebot aus, bei dem der Bildschirm mit mir spricht. 

 

„Kann man Tango verlernen?" aus der Reihe "In Love With Tango". Alle Rechte (Text) bei Lea Martin, Berlin 2020

Foto: Aus dem Archiv von tango-argentino-online.com

 

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