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Tango Kolumne
Tangostress

 

EINBLICKE IN DIE TANGOSZENE: Teil 55 DER REIHE VON LEA MARTIN

Tango-Kolumne: Tangostress

René ist unzufrieden. Den ganzen Tag schon. Und nun macht auch noch seine Tanzpartnerin, nicht das, was er will. Bleischwer hängt sie in seinem Arm, an der Brust spürt er keinen Druck. Mal bewegt sie sich zu vorsichtig, dann wieder zu ungestüm. Gerade schießt sie über die Kurve, in die er sie führen will, hinaus, dann kommt sie seinen Schritten nicht hinterher. Selbst bei den einfachsten Vorwärtsschritten stehen ihm ihre Füße im Weg. „Du musst dich schon führen lassen“, schlägt er mürrisch vor und gibt sich Mühe zu lächeln. Er weiß ja, wie Frauen sind. Kaum kritisiert man sie, schon sind sie fort. Mit seiner letzten Tanzpartnerin war das auch so.

„Wie und wann“, überlegt derweilen die Folgende, „sage ich ihm, dass ich die Lust verliere, wenn er mich ständig kritisiert? Erst war mein Arm zu schwer, dann der Druck meines Körpers zu leicht, nichts kann man ihm recht machen, jedenfalls nicht ich oder nicht heute.“ Nun kommt auch noch der Tanzlehrer auf die beiden zu. Freundlich lächelnd nimmt er die Folgende in die Umarmung, tritt dann zurück, spiegelt ihre Haltung: „When you are stressed, you do this.“ Er macht einen Buckel. „Ja, klar“, lache ich, „ich bin wirklich gestresst.“

Nicht einmal jetzt fällt René etwas auf. Dabei war ich, als die Tanzstunde losging, noch herrlich entspannt. Hatte extra eine Pause zwischen Arbeit und Tango geschoben. Erst Powernapping, dann Dusche. Und jetzt so ein Stress- Kavalier. Das Gute daran: Ich lerne Partnerwechsel zu schätzen. Soll er die anderen Damen mit seiner schlechten Laune beehren. Mich lobt derweil eine Führende, wie gut ich mich führen ließe. Gleich geht es mir besser, der Stress fällt für einen Moment von mir ab, wandert zu einem sehr jungen Mann, der nun an der Reihe ist mit mir zu tanzen. Er könnte mein Sohn sein und ist so gestresst, dass ich versucht bin ihm vorzuschlagen, eine Runde auszusetzen. Doch wenn ich jetzt auch noch mütterlich werde, wäre das vermutlich noch mehr Stress für ihn. Dabei macht er seine (Tango-)Sache ganz gut. Ich bin heute wirklich gebeutelt: erst ein Tanzpartner, der genervt von mir ist, dann einer, der gar nicht erst mit mir tanzen will. Und alles nur, weil mein echter Tanzpartner in Urlaub ist. In seiner Abwesenheit lerne ich ihn noch mehr zu schätzen. Der Kurs ist vorüber, die Milonga beginnt. René hat sich etwas zu trinken geholt und wundert sich, dass ich schon gehe. Ich sei müde, sage ich, und das ist durchaus wahr. Tangostress macht müde. Mich jedenfalls.

 

 

"Tangostress" aus „Tango Dreams“

 

Alle Rechte (Text) bei Lea Martin, Berlin 2018
Foto: tangokultur.info

 

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