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Tango Kolumne
Laufen lernen

 

EINBLICKE IN DIE TANGOSZENE: Teil 24 DER REIHE VON LEA MARTIN

Laufen lernen beim Tango tanzen

Ich habe noch keinen Fuß gesetzt, schon höre ich: „No.“ Alejandro schüttelt den Kopf, fasst mich bei den Schultern: „Relax.“ Willkommen beim Tango, denke ich und schmunzele. Längst bin ich keine blutige Anfängerin mehr, jedenfalls nicht in meinen eigenen Augen. Doch Lehrer/innen sehen das anders. „Stehe aufrecht und entspannt, Schultern nach unten, Fersen am Boden.“ Und dann übe, vor dem ersten Schritt, erst mal zu stehen.

Laufen lernen, wie lang ist das her. Ich war anderthalb und ein hoffnungsloser Fall. Getragen werden fand ich bequemer. Also stellte meine Mutter mich auf den Balkon und drohte die Tür von innen zu schließen. Pädagogisch wertvoll war das wohl nicht. Aber wirkungsvoll. Ich lief... wie auf der Flucht. Auch später, an der Hand meiner Mutter („du Trödellieschen“) trainierte ich rasches Gehen. Jetzt soll ich back to the roots in die Zeit vor dem Balkon. Stehen und abwarten, bis jemand schiebt. Die Energie aus dem Boden holen. Jeder Schritt birgt ein Universum an Möglichkeiten, die Richtung, das Tempo, die Dynamik zu ändern, und folgt einer Dramaturgie, die Alejandro eindrucksvoll in kleinste Sequenzen zerlegt. Als Folgende muss ich darauf eingestellt sein, überrascht zu werden, ja, mehr, ich muss die Überraschung genießen (ich, die ich Überraschungen noch nicht mal an Geburtstagen mag.) Also: Zepter aus der Hand, Frau Königin, und schön aufgepasst, wohin der andere will. Vorwärts, rückwärts, seitwärts, stehen. Wie einfach war das früher bei Standard-Latein. Ein paar Schrittfolgen und schon konnte man glänzen. Beim Tango sind Figuren ei- ne zu vernachlässigende Größe. Entscheidend ist, wie man sie macht.

„Feel your britttt...äh...“ Das ist die nächste Stufe. Ortswechsel, Lehrerwechsel. Michael spricht Englisch mit französischem Akzent und ist unsicher, ob es „briiiittt“ oder „bretttt“ heißt. Mein Tanzpartner macht sich lustig: „What about breathththte...?!“ Doch alle haben verstanden. Das gemeinsame Atmen steht auf dem Programm. Stehend einatmen, größer werden, dann ein oder zwei Schritte gehen und gemeinsam ausatmen. Das klingt, wie immer beim Tango, einfacher als es ist. Ich erinnere mich an die Gedichtzeile weil wir ein Atem sind. In Worten sagt sich das leicht.

 

Aber körperlich mit dem Atem eines anderen mitzugehen ist eine Herausforderung. Hoffentlich kollabiere ich nicht. Aber nein. Auch mein Tanzpartner hat keine Lust auf eine Ohnmacht. Hoffnungsvoll drehen wir unsere Runden, bis ich Michaels Hand auf der Schulter spüre und meinen per- sönlichen Tango-Lessons-Refrain hören darf: „No... Relax.“

 

 

"Laufen lernen" aus „Tango Dreams“

 

Alle Rechte (Text) bei Lea Martin, Berlin 2016
Foto: tangokultur.info

 

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