top of page

Tango Kolumne
Milonga Miserable

 

EINBLICKE IN DIE TANGOSZENE: TEIL 9 DER REIHE VON LEA MARTIN

Tango ist ein Traum. Und manchmal ein Alptraum. Coole Musik, cooler Ort und weit und breit niemand, der tanzen will: jedenfalls mit mir.

 

Frauenüberschuss. Milonga Miserable nenne ich das. Da hilft kein Herumschauen und freundliches Zwinkern. Denn wem willst du zuzwinkern, wenn da niemand ist…?! Die Füße zucken im Takt, die Beine vibrieren. Tango solo. Das ist eine Marktlücke und könnte unterrichtet werden. Man wäre unabhängig und würde den Abend auch ohne Partner/in genießen. Würde man…?!

 

Endlich fällt mir ein Mann auf, am anderen Ende des Raums, der in Frage kommen könnte. Ob ich die Tangoregeln breche und zu ihm gehe? Dankenswerterweise muss ich nicht weitergrübeln, er hat meine Blicke bemerkt.„Zum Tanzen hier...?!“ „Sie sind mein Retter.“

 

Der Retter kommt aus Süddeutschland und wirbelt mich gekonnt durch den Raum. „Sind Sie ein Profi?“ Er lacht: „Ich tanze seit dem letzten Jahrtausend.“ Und dann… der unvermeidliche Rat: „Lass dich einfach fallen.“ Ich gebe mir redlich Mühe, mich auf den Wirbelwind zu konzentrieren. Nach zwei, drei Tänzen kommen meine Füße allmählich hinterher, mein Körper entspannt sich und ich fange an die überraschenden Tempiwechsel und herausfordernden Führungsangebote zu genießen. Die kleinsten Impulse nehme ich wahr. Ich schließe die Augen, schwebe im Tangohimmel. So könnte ich unendlich weitertanzen. Milonga, Waltz, Neotango. Souverän führt er mich durch jede Musik.

 

„Das war schön mit dir zu tanzen, vielen Dank, im Januar bin ich wieder in Berlin.“ Er deutet eine Verbeugung an, lässt mich stehen. Mitten auf der Tanzfläche. Mitsamt meiner Hingabe. Uppps. Die Begeisterung war wohl einseitig. Tanze ich ihm zu schlecht? Enttäuscht sammele ich meine Beine wieder ein und schaue vom Rand der Tanzfläche zu, wie mein Traumtänzer die nächsten Frauen auffordert. Eine nach der anderen, jeweils zwei bis drei Runden. Er tanzt alle durch, alle geben sich hin. Und alle lässt er stehen. Ich sehe auf die Uhr. Manche Milonga müsste nicht sein. Oder ist das unfair?

 

Immerhin hatte ich Spaß. Und der brüske Abschied lag nicht an mir. Der routinierte Tangotänzer genießt den Wechsel der Partnerinnen und kann es sich leisten: Jede wird begeistert sein. Von einem wunderbaren Moment, der sich abhebt. Das, vielleicht, ist die besondere Qualität einer Milonga Miserable: Sie bildet den melancholischen Background für glitzernde Augenblicke..

 

 

"Milonga Miserable" aus „Tango Dreams“

 

Alle Rechte (Text) bei Lea Martin, Berlin 2015
Foto: tangokultur.info

 

 

>>zurück zur Rubrik "Tango-Kolumne"

bottom of page