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Tango Kolumne
Solange wir tanzen

 

EINBLICKE IN DIE TANGOSZENE: Teil 81 DER REIHE VON LEA MARTIN

Tango-Kolumne Solange wir tanzen von Lea Martin

Solange wir Tango tanzen, bringen wir der Person, mit der wir tanzen, etwas entgegen, für das mir keine andere Bezeichnung einfällt als - Liebe. Damit ist keine erotische und keine partnerschaftliche Liebe gemeint. Gemeint ist eine Haltung, die den anderen nicht nur lässt, sondern annimmt und begrüßt, ja, genießt, wie er ist. Eine Haltung, die sich neugierig auf etwas einlässt, das es so noch nie gab, die keine Vergleiche zieht, die nicht wertet und misst.

 

Meine Erfahrung ist, dass immer dann, wenn es mir schlecht geht und ich wenig zu geben habe, auch kein Tango entsteht. Die Frage ist nicht, wie viel ich geübt habe oder wie groß meine Sehnsucht ist. Im Gegenteil führt jede Bedürftigkeit mit großer Wahrscheinlichkeit zu Milongas, an deren Ende ich kaum getanzt haben werde, und die wenigen Tänze, zu denen es kam, werden schrecklich ausfallen. Milongas bieten einen idealen Raum, um sich darüber klar zu werden, was einem fehlt und wie es einem damit geht. Kerzenschein, sehnsuchtsvolle Musik, knarrendes Parkett, sich in Umarmung wiegende Menschen, hie und da leises Lachen. Diese Atmosphäre lädt — auch ohne selbst zu tanzen — dazu ein ,zur Ruhe zu kommen und sich auf sich selbst zu besinnen.

 

Immer wenn ich glücklich zu einer Milonga gehe, nimmt auch sie einen glücklichen Verlauf. Gute Laune zieht andere an. Interessiert, ja, neugierig nimmt man Tanzhaltung ein, die Überraschung genießend, die der Tango bereit hält. Höflich, aber klar lehne ich Aufforderungen zu Tänzen ab, bei denen ich mich unwohl fühlen werde. Ich habe mir angewöhnt, nur mit Menschen zu tanzen, mit denen ich tanzen will. Wenn mich ein Tänzer interessiert, freue ich mich auf den Tanz wie auf eine schöne Verabredung. Mit allen Sinnen, mit Seele und Geist bin ich aufmerksam für das, was mir sein Körper durch seine Bewegung erzählt, und tanze mein Ja mit allem, was mich ausmacht und so gut ich es kann. Solange wir tanzen, gehöre ich ihm. Und es spielt keine Rolle, wie lang dieses Solange ist. Wenn ich glücklich bin, brauche ich keine Fortsetzung des Tanzes mit diesem einen Tanguero. Tangotänzer sterben nicht aus.

 

Die Universalität der liebenden Haltung, die zu schönen Tangoerlebnissen führt, ist grundverschieden von jener Liebe, die sich auf eine - und nur eine - Person bezieht. Denn wir kennen denjenigen, mit dem wir tanzen, ja nicht. Wir wissen nicht, was er auf dem Gewissen hat oder im Schilde führt. Trotz dieser Unkenntnis vertrauen wir ihm. Mit dieser Unschuld eines Vertrauens, das nicht nach Gestern und Morgen fragt, eröffnet der Tango den Horizont zu einer Liebe, von der manche Religionen erzählen, einer Liebe, die allen Menschen gilt und ihnen eine Chance gibt: jedenfalls für drei Minuten.

 

"Solange wir tanzen" aus „Tango Dreams“

 

Alle Rechte (Text) bei Lea Martin, Berlin 2019
Foto: tango-argentino-online.com

 

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