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Tango Kolumne
Zauberhafte Beziehungsstörung

 

EINBLICKE IN DIE TANGOSZENE: Teil 47 DER REIHE VON LEA MARTIN

Tangokolumne: Zauberhafte Beziehungsstörung

„Die meisten Tangotänzer haben eine Beziehungsstörung.“ Beifallheischend sieht Hajo sich um. „Welche normalen Menschen kommen sich freiwillig körperlich so nah wie beim Tango: für genau drei Minuten?“

 

Tatsächlich lassen sich die anwesenden Partygäste in zwei Gruppen teilen: Glückliche Paare. Oder sie tanzen Tango. Ist Berlin deshalb das Mekka des deutsch-argentinischen Tangos? Weil sie die Stadt mit den meisten Beziehungsneurotikern ist? Wenn ich meine Tango-Bekanntschaften Revue passieren lasse, fallen mir durchaus Besonderheiten im Sozialverhalten auf, die im normalen Leben nicht akzeptiert würden. Kann sein, ein Mann, mit dem du gerade noch über‘s Parkett schwebst, hat am nächsten Tag nicht nur deinen Namen vergessen (sofern er überhaupt danach gefragt hat), sondern grüßt nicht mal mehr. Ein anderer legt schon beim ersten Tanz seine Hand auf deine Hüfte, als gehörtest du ihm. Die Grundformel der Tangowelt lautet: Hingabe, gepaart mit Unverbindlichkeit. Drei-Minuten-Ehe wird der Tango deshalb auch genannt. Wer, bitte, lässt sich auf so etwas ein?

 

Hajos provokative Frage löst eine lebhafte Diskussion aus. Denn ja, natürlich geht es vielen Männern beim Tangotanzen vor allem ums Kuscheln: und gerne mehr. Doch ist dies Bedürfnis Frauen etwa fremd? Und wenn beide einverstanden sind, was ist dagegen zu sagen? Es kann aufregend sein mit Fremden zu tanzen, unterschiedliche Tanzstile und Temperamente kennenzulernen, sich aufeinander einzulassen. Tango ist ein Spiel mit festen Regeln. Wenn jemand zu nah kommt, darf man sich wehren. Wenn man jemandem nah kommen will, hat man die Chance. Es geht um Spaß, um Unterhaltung. In einem schönen Ambiente, bei angenehmer Musik. Tango Argentino ist ein harmloses Vergnügen, verglichen mit dem, was Menschen mit Beziehungsstörungen sonst noch so tun. Sie drangsalieren ihre Nachbarn mit Zivil-Prozessen, drängeln auf der Autobahn oder misshandeln ihre Kinder, ganz zu schweigen von den vielen, die alles, was ihnen fremd ist, mit Hass überziehen. Beziehungsstörung Tango? Kann sein. Aber es ist die bezauberndste Beziehungsstörung der Welt. (Und ich muss es wissen, sind doch Autor/inn/en die Avantgarde des Heeres der Beziehungsgestörten. Was sonst bringt mich dazu, in Kolumnen über Dinge zu schreiben, die normale Menschen bestenfalls ihrem Friseur anvertrauen?)

 

 

"Zauberhafte Beziehungsstörung" aus „Tango Dreams“

 

Alle Rechte (Text) bei Lea Martin, Berlin 2017
Foto: tangokultur.info

 

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