top of page

Tango Erzählungen
von Lea Martin

 

ERSCHEINUNGSTERMIN: JULI 2020
  >> ZUR CORONA SONDERSEITE  

Sind Tangotänzer die besseren Liebhaber?

Softcover, ca. 254 Seiten
ISBN: 978-3-935401-09-8

14 €
 

>> Leseprobe 1

Der Doktorand

>> Leseprobe 2

Frauen wollen immer reden

>> Leseprobe 3

So leicht, so schwer
 

>> Leseprobe 4

Nüchterne Nächte

>> Leseprobe 5

Das Versprechen

>> Leseprobe 6

Sind Tangotänzer die besseren Liebhaber? 

>> Leseprobe 7

Der Erdbeermann 

>> Leseprobe 8

Innige Verbindung

>> Leseprobe 9

Der Tangomeister

>> Leseprobe 10

Tango zu dritt

>> Leseprobe 11

Eindeutiges Angebot

Please reload

Cover_Tango_Liebhaber.jpg
tangodanza-logo-160.jpg

Der Doktorant
Zunächst ist alles wie immer. Der Raum ist dunkel, auf der Tanzfläche scheinen alle besser tanzen zu können als sie. Doch dann, mit einem flüchtigen Nicken des Kopfes, fordert jemand sie auf, dessen Umarmung sich anfühlt wie für sie gemacht. Ein Oberarm liegt warm unter ihren Fingern. Vor ihren Augen streckt sich ein verlockender Hals. Noch weiß Julia nicht, dass viele Männer sich im Tango so anfühlen. Noch gehört sie zu den An- fängerinnen, die glauben, dies sei ein Zeichen für etwas, das über den Tango hinausgeht. Sie atmet tief ein und genießt den Moment. 
»Eng oder offen?« fragt der Fremde mit einem Lächeln, das Grübchen in seine Wangen zaubert. Glücklich lächelt Julia zurück. Bevor sie den ersten Schritt setzen, spielt sich etwas ab, das alles vorwegnimmt, was dieser Tango für sie bereithält. Hier, jetzt, in diesem Moment, gibt es nur ihren Körper, den Fremden und eine Melodie, der sie sich hingeben wird. Julia schließt die Augen und spürt, wie sich seine Energie auf ihren Körper überträgt. Sie nimmt seine Impulse auf wie ein Instrument die Berührung des Musikers. Nach sanftem Auftakt prescht er stürmisch voran. 
»Wow. Das fühlt sich phänomenal an.« 
»Ja«, bestätigt der Fremde zufrieden »So muss das sein.«
Ihre Körper fügen sich ineinander, als seien sie füreinander gemacht, und Julia lässt sich fallen in eine Bewegung, die sich wie Fliegen anfühlt. Mühelos geraten sie in ein Gleiten, das die Menschen süchtig nach Tango macht. Die sehnsuchtsvolle Musik durchzieht den dunklen Raum wie ein Versprechen, das von ihren Körpern eingelöst werden will. Ist das wirklich noch sie? Was sind das für Figuren, die sie spielerisch tanzt? Woher rührt die Energie, die sie mit dem Fremden verbindet? Gerade noch stand Tango vor ihr wie eine unüberwindbare Mauer. Und jetzt diese Schwerelosigkeit. Der Fremde lockt etwas aus ihr hervor, der sie selbst überrascht. 

Doch kaum hat die Tanda begonnen, ist sie schon wieder vorbei. Ein freundliches Nicken, die Grübchen blitzen kurz noch einmal auf, dann taucht der Fremde unter, wird verschluckt vom Menschengewirr, und Julia findet sich verwirrt am Rand der Tanzfläche wieder. (...) 
 

 

Frauen wollen immer reden 

Suchend tasten seine Füße über den Boden. Sein Körper mit den vornübergebeugten Schultern gleicht der Sichel des Mondes, die vom Alexanderplatz über die ehemalige Stalin-Allee bis in die Fenster der Panoramico-Bar leuchtet. Revolution war gestern, heute wird getanzt. Nele kneift ihre Augen zusammen, um die Silhouette des tanzenden Mondmannes besser zu sehen. Er hat flinke Füße und hält die Frauen auf Abstand. 

Als eine Cortina gespielt wird, setzt er sich ans Fenster. Unauffällig schlendert Nela in seine Richtung. Ihr sind die Tango-Regeln egal, nach denen Frauen nicht aktiv auffordern dürfen. Wenn sie mit jemandem tanzen will, zeigt sie es. Sie geht neben ihm in die Hocke und ruft in sein Ohr: 

»Ich habe dich beobachtet. Mir gefällt, wie du tanzt. Ich möchte unbedingt spüren, wie es sich anfühlt, mit dir zu tanzen.« 

Wortlos steht der Tänzer auf und gibt ihr mit einer Kopfbewegung zu verstehen, ihm zu folgen. Auf der Tanzfläche hebt er seinen linken Arm. 

Nele atmet tief durch. Jetzt heißt es cool bleiben und sich nicht einschüchtern lassen. Sie legt ihre Hand in seine. Er ist genauso groß wie sie und sieht sie nicht an, sondern schaut zu Boden. Routiniert tanzt er los, wirbelt sie um ihre Achse, fordert sie heraus, bis der Raum sich dreht, erfüllt von seinen Impulsen. Er hält sie weit von sich weg wie die Frauen zuvor und zwingt sie, über ihre Grenzen zu gehen. Seine Hand gleitet über ihre Schulter, als wolle er sie verführen, sein Bein drängt sich zwischen ihre Beine, als wolle er mit ihr schlafen, die Pirouetten, die er sie drehen lässt, bringen sie fast zu Fall. Sie schämt sich ihrer schlechten Balance, die mit der Impulsivität dieses Mannes nicht mithalten kann. Ihn interessiert nicht, was sie kann, wie es ihr geht, sondern er tanzt einfach sein Ding – wie ein Komet, der das Weltall durchschwirrt und nicht weiß, wo er andocken soll. 

»Das war nicht schlecht«, sagt er anerkennend, als die Tanda vorüber ist. »Du hast Talent.« Seine Stimme ist rau und hat einen Akzent, als komme er von weit her. Türkei. Russland. Iran. Irgendeine Ferne, von der wir träumen, wenn uns langweilig ist. 

»Danke«, sagt Nele geschmeichelt und sieht ihm nach, wie er mit gebeugten Schultern aus dem Raum geht. 

Lass die Finger von ihm, flüstert eine Stimme in ihr.
Benommen vom Taumel des Tanzes geht sie zurück an ihren Platz. (...) 


 

So leicht, so schwer 

Schrille Schreie ziehen durch das Tangoloft. Nebelschwaden fliegen über das Parkett, überall klebt künstliches Blut. An Halloween wird mit Wunden gespielt. Viele der Tänzer/innen sind verkleidet. Auch Pia hat ihr Bestes für ein gespenstisches Outfit gegeben mit dem Erfolg, dass sie aussieht wie die zerstruwwelte Schwester von Batman mit Pigmentstörungen. Obwohl die Maskerade nicht wirklich gelungen ist, fühlt es sich gut an, sich dahinter zu verstecken. Pia kann über die Stränge schlagen, ohne dass jemand sie erkennt. Nur, wer sollte das sein? Und was sollte sie tun? 

Das Reizvollste und zugleich Bedrohlichste, was sie sich vorstellen kann, ist, sich voll und ganz auf das einzulassen, was geschieht. Als ein besonders dramatischer Tango gespielt wird, der ihr unter die Haut geht, schaut sie sich suchend um. Heute ist Halloween, und es wäre doch gelacht, wenn sie warten müsste, bis jemand sie auffordert. Unter den Masken ist das Blinzeln ohnehin schwer zu erkennen. Neben ihr sitzt ein Mann, der von Verkleidung an Halloween offensichtlich nichts hält. 

»Tanzen?«
Auffordernd lacht Pia ihn an. 

»Aber ja.«
Er lächelt freundlich und springt auf. 

Ringsum lautes Gekreisch und Gelächter, venezianische Masken, Totenköpfe und Federboas, doch da, wo Pia Tanzhaltung mit dem Fremden einnimmt, ist es ruhig wie auf einer einsamen Insel. Vom ersten Moment an fühlt sie sich in der Umarmung geborgen. Der Fremde atmet tief ein, sie folgt seinem Atem. Was für eine Wohltat, aus Halloween aufzuerstehen in einer Blüte aus Atem, einer Tango-Orchidee. Seine Führung ist achtsam, seine Bewegungen sind sanft. In Pia löst sich eine tiefe Anspannung, von der sie bis eben kaum etwas wusste. Sie schließt die Augen und schwebt wie auf einer Wolke durch den Halloween-Tumult. Kaum haben sie begonnen, ist der erste Tango vorbei, dann der zweite, der dritte. Sie gleiten von einem Stück in das nächste, und Pia ist immer wieder neu überrascht, wie schnell jeder Tango vorbei ist. 

»Die Stücke sind heute kürzer als sonst.«
Pia lacht über ihren eigenen Witz. Der Fremde lächelt. Es fällt ihr schwer, sich von ihm zu lösen. (...) 


 

Nüchterne Nächte 

Durch den Hinterhof des Tangotanzenmachtschön zieht leise Tangomusik. Jana ist früh dran und genießt, sich in Ruhe umziehen zu können. Noch ist der Umkleidebereich auf der Empore fast leer. Später wird hier emsiges Treiben herrschen. Ein Sofa ermöglicht, entspannt auf die Tanzfläche zu schauen, wo der Mittelstufenkurs noch im Gang ist. 

Unter den Schülerinnen und Schülern fällt ihr vor allem Monique auf, die ihren lockigen Pagenkopf in den Nacken wirft und lauthals lacht. Im wirklichen Leben heißt sie Monika und langweilt sich täglich in einer Behörde. Das Auffälligste ist ihr Lachen, das in unzähligen Fotos von ihrer Facebook-Seite leuchtet und ihr auch live beim Tango vorauseilt. Moniques Lachen passt nicht zum melancholischen Tango. Der Tango verlangt nach einer Tonlage, die leicht depressiv ist. Man spricht in verhalte- nem Flüsterton und zeigt nur gedämpfte Gefühle, um die Musik und die Tanzenden nicht zu stören. Die großen Emotionen, um die es im Tango geht, finden nicht auf Gesichtern statt. Und auch am Rand der Tanzfläche ist dafür kein Platz. Hier wird sittsam gesessen und an Gläsern genippt, mit den Beinen gewippt und mit Möglichkeiten geliebäugelt, statt sie zu ergreifen. Die forsche Monika passt nicht wirklich hierher. Viel zu selbst- bestimmt gestaltet sie ihr Leben. Sie braucht keinen Mann. Um das zu kaschieren, nennt sie sich im Tango Monique. Männer sind dazu da, um Spaß zu haben, und für diesen Spaß bricht sie gern die albernen Regeln, die mit dem Tango Argentino nach Berlin importiert wurden, als sei dessen Ziel, emanzipierte Frauen neue Unterordnung zu lehren. Auf hohen Stöckelschuhen, in denen sie sich nur unsicher bewegen können, warten sie brav am Rand der Tanzfläche, bis Männer sie diskret per Augenzwinkern auffordern. Wer nicht aufgefordert wird, hat Pech, wer nicht in hohen Schuhen laufen will, auch. Monique tanzt gern barfuß und fordert ohne Hemmungen auf. Beim Tanzen wirbelt sie ihre Beine zu Boleos, wann immer sie will, und schert sich nicht darum, ob das andere stört. Wenn sich ein Führender beschwert, lacht sie und lässt ihn stehen. Ihr Tango wurde nicht in einem längst vergangenen Jahrhundert nach Berlin importiert, sondern sie hat ihn im Blut. Bereits ihre argentinische Großmutter hat Tango getanzt. Ihr muss niemand sagen, wie Tango geht. Tango entsteht aus Revolte, aus Protest, und er braucht Menschen, die aufbegehren — und begehren. (...) 


Das Versprechen 

Unsicher, was sie erwartet, öffnet Mira die Tür.
Dichtes Gedränge in der Garderobe, die Tanzfläche überfüllt. Hier und da blitzt kurz ein fliegendes Bein auf. Marvin winkt vom hinteren Ende des Raums. Mit durchgedrücktem Rücken geht Mira auf ihn zu, ängstlich bemüht, ihre Unsicherheit zu verbergen. Als die Practica beginnt, formiert sich die Menschenmenge zu einem Kreis. Frauenüberschuss. Die leisen Worte des Tangolehrers gehen im Stimmengewirr unter. 

Der Mangel an Organisation ist typisch für diese Tanzschule. Können sie nicht einfach nur so viele Frauen zu den Kursen zulassen, dass jede einen Tanzpartner hat? Und wieso beginnt keine Stunde pünktlich? Mira sieht sich umringt von Menschen, die keine Ahnung haben, was es heißt, jeden Tag straff durch organisieren zu müssen. In dem Tango, der hier gelehrt wird, steht die Welt Kopf. Die Führenden sind sanft, die Folgenden stark. Hier gibt es keinen Glitzer-Tango, sondern das Gefühl, seinen inneren Zirkel erreicht zu haben, das Zentrum, den Kern, über den so gern und ausführlich philosophiert wird. Dabei gibt es nicht viel zu philosophieren. Tango verführt nur deshalb Menschen überall auf der Welt dazu, viele Stunden am Tag zu trainieren, weil sie alle sich nach Verbindung sehnen. Miras Körper, der tagsüber hinter einem Computer gefangen sitzt, ist weit davon entfernt, mit irgendwem zu verschmelzen. Steif und ungelenk steht er um sie herum, wie eine Ritterrüstung, die nicht zu ihr passt. 

Der Tangolehrer fordert die SchülerInnen auf, durch den Raum zu gehen. Einfach zu gehen. Just walk. Als sie das hört, bekommt Mira einen Schweißausbruch. Für sie ist nichts einfach, was mit ihrem Körper zu tun hat, schon gar nicht, wenn sie sich beobachtet fühlt. »Lass dein Bein einfach nach vorn fallen«, hört sie die leise Stimme des Tangolehrers neben sich. Wie eine Raubkatze hat er sich angeschlichen. »Bleib locker, erzwinge keinen Schritt. Geh nur so weit, wie dein Körper es will.« 

Mira schießt das Blut in den Kopf, sie fühlt sich ertappt. Nicht einmal einfach laufen kann sie. Wie will sie jemals Tango lernen? Sie schüttelt ihre Beine, bemüht sich um Auflockerung, doch je mehr sie um Lockerheit kämpft, desto mehr verspannen sich ihre Muskeln. Jetzt verliert sie auch noch ihre Balance, kippt fast um, ihre Beine baumeln ungelenk wie bei einer Marionette. Die sehnsüchtige Tango-Musik verspricht etwas, das sich für sie nicht erfüllt. Viel zu steif sind ihre Gelenke, viel zu angespannt ihre Nerven. Längst hat Mira verstanden, dass das Herz des Tangos nur erreicht, wer sich bedingungslos auf ihn einlässt. Solange sie sich vor ihrer eigenen Wahrheit verschließt, wird sich auch der Tango vor ihr verschließen. Was aber ist ihre Wahrheit? Muss sie mehr Sport machen? Warum fühlt sich ihr Körper so fremd an? (...) 

Sind Tangotänzer die besseren Liebhaber? 

»Noch ein bisschen die Füße vertreten vor dem Tanzen?«
Wie bitte? Überrascht sieht sie auf, ihr Blick streift einen Schuhbeutel. 

In Bruchteilen eines Moments reagiert ihr Hirn auf Signale, die es als positiv auswertet, und lässt sie auf eine Frage, die keinen Sinn ergibt, antworten: »Ich habe gerade eingeparkt.« Die Auswertung ihres Hirns ergab: Der Sprecher ist attraktiv. Charmantes Lachen, dynamischer Gang. Natürlich vertritt sie sich nicht die Füße, kein Mensch vertritt sich vor dem Tanzen die Füße, sondern sie geht mit einem ähnlichen Beutel wie der Fragesteller zielstrebig Richtung Tangoloft. Wäre er weniger attraktiv, würde sie ihn abschütteln wie einen streunenden Hund. So aber fügt sie eine Frage hinzu, deren Antwort auf der Hand liegt: 

»Gehst du auch ins Loft?« 

»Ja.«
Er lacht ein helles, fast weibliches Lachen. 

»Das Loft ist toll.«
»Oh ja, es ist wunderbar.«
»Ich liebe es.«
»Die beste Tangolocation in Berlin.« 

Es ist ein glühendheißer Sonntagnachmittag. Viele Menschen in Berlin suchen Abkühlung an Seen. Die Tangotrunkenen aber glühen zu den Melodien, die schmelzend über den Weddinger Hinterhof ziehen. Irgendwo hier hat Jule die Liebe gefunden. Und wieder verloren. Wie den Regenschirm in Kästners Gedicht. Sie weiß nicht, was besser ist: sich zu erinnern. Oder zu vergessen. Das Tangoloft liegt (wie auch viele andere Tango-Locations in Berlin) in einem heruntergekommenen Fabrikgebäude. Im Treppenaufgang stinkt es nach Pisse. Im Parterre finden türkische Hochzeiten statt, in den oberen Etagen komfortable Firmenevents, denen der Fabrikflair des 19. Jahrhunderts als nostalgische Kulisse für digitale High-Tech-Produkte dient. Ein kleines Schild weist auf das Tangoloft hin, und sobald man die hölzerne Schwingtür aufstößt, verblasst die Umgebung. Ein Raum wie aus einem Märchenbuch, in dem sich nicht nur Tango, sondern auch warmer Apfelkuchen mit Milchkaffee genießen lässt. Das Loft treibt seine blühenden Wurzeln in den Wedding wie eine stumme Revolte. Alte Plüschsofas, Sessel, Kerzenständer verteilen sich durch den weiten Saal, über dem ein großer Kronleuchter schwebt. An der Bar wird mehrsprachig oder wortlos bedient, bei Silent Milongas. Die gemeinsame Sprache heißt Tango. Das Publikum kommt aus allen Teilen der Welt. Oft wird Livemusik gespielt. Der Klavierflügel, der mitten im Raum steht, ist üppig dekoriert. Wer Ruhe braucht, kann sich auf ein separates Sofa zurückziehen, vor dem ein roter Vorhang hängt. Das Loft ist so verheißungsvoll wie Mona, die überall üppige Blumensträuße verteilt. Lilien, Pfingstrosen, Orchideen. Der Duft betört die Sinne. Mit glockenheller Stimme trällert sie die melancholischen Tango-Lieder und fliegt, auch ohne zu tanzen, über das Parkett, eine Inkarnation des weiblichen Berliner Tangos. (...) 

Der Erdbeermann 

»Hast du das gehört? Von dem Anschlag in Paris?«
Hanna sitzt am Rand der Tanzfläche und starrt auf das hell erleuchtete Mobiltelefon. Blaulicht. Rettungswagen. Weinende Menschen. Der Terror hat zugeschlagen. Musik, Tanz, Cafés sind sein Ziel. 

Neben dem Tresen steht ein Mann in schwarzem Hemd. Als er Hanna auffällt, schaut sie rasch wieder weg. Warum eigentlich? Ist sie nicht hier, um zu tanzen? Sie wirft einen zweites Blick auf den Mann, der diesen so rasch, als habe er darauf gewartet, mit einem auffordernden Nicken erwidert. Während in Paris der Terror zuschlägt, setzt der Mann am Tresen gekonnt die blickweise Aufforderung des Tangos ein. Doch ein Cabaceo macht noch keinen Tango. Der Mann in Schwarz mag vieles können, aber Tango gehört sicher nicht dazu. Hanna scheint auf diese Sorte von Männern eine magnetische Anziehungskraft auszuüben. Männer, die sich auf das Tangoparkett verirren, weil sie hier besonders willige Beute vermuten — nicht ganz zu Unrecht. Viele Frauen versuchen sich beim Tango darüber hinweg zu trösten, dass im »richtigen Leben« alle interessanten Männer vergeben sind und/oder nur Affairen wollen. Der Mann im schwarzen Hemd ist groß und kräftig und schiebt sie über das Parkett, als habe er einen schwer beladenen Gabelstapler vor sich. Hanna versucht, seinen schaukelnden Bewegungen auf eine Art zu begegnen, die irgendwie noch erkennen lässt, dass sie Tango tanzen. 

»Dich habe ich ja noch nie gesehen«, strahlt er. »Bist du aus Berlin?« Seine blauen Augen leuchten aus einem Gesicht, das so unverwüstlich wirkt wie ein Regenmantel. »Ja, klar«, lacht sie und überlegt, ob sie ihn schon nach dem ersten Tanz verabschieden darf oder bis zum Ende der Tanda durchhalten soll. 

»Wo tanzt du normalerweise?«
»Hier und dort«, antwortet sie ausweichend.
»Kann nicht sein«, strahlt er. »Du wärst mir aufgefallen, so hübsch wie du bist.« »Du baggerst mich an«, stellt Hanna fest.
»Stimmt!«, lacht er entwaffnend. »Ich würde dich gern zum Essen einladen.» Hanna lacht auf: »Zum Essen einladen?» Seine unbekümmerte Art, beim Tango zu plaudern, als säßen sie in einem Ruderboot, entspricht nicht ihrer Vorstellung von Tango. Sie will nicht berudert werden, sondern verschmelzen. Die Musik ist zu Ende, der erste Tango geschafft. Hanna beschließt, noch ein bisschen durchzuhalten. Was erwartet sie, wenn sie jetzt geht? Sie wird am Rand der Tanzfläche sitzen, bis Erwin-Tango oder ein anderer Vertreter aus der Familie der Tango-Restposten sie auffordert und sie mangels Alternativen schlecht ablehnen kann. Wie so oft auf Milongas ist Frauenüberschuss, die wirklich guten Tänzer sind in festen Händen. (...) 

Innige Verbindung 

Sina beobachtet die Tanzfläche wie durch einen Schleier, der ihren Blick sehnsuchtsvoll färbt. Ihre Augen bleiben an einem Mann hängen, der selbstvergessene Runden dreht, als würde ein Segelboot auf dem Wasser tanzen. In seinem weißen Baumwollhemd mit Knöpfen aus hellem Holz, gebräunter Haut und sonnengegerbtem Haar sieht er aus wie ein Reisender, den es zufällig nach Berlin verschlagen hat. Er hält eine schöne Frau in hellem Leinenkleid im Arm. Sein liebevolles Lächeln spiegelt sich auf ihren Lippen, die Augen hält sie geschlossen. Die beiden scheinen eine unzertrennliche Einheit zu bilden und wirken von einer solchen Andacht erfüllt, dass Sina die Tränen kaum zurückhalten kann. 

Zum Glück ist Hartmut gerade auf der Toilette. Bis eben saß sie neben ihm und trank mehr Wein, als ihr gut tat, um seine boshaften Kommentare zu ertragen, mit denen er die Welt überzieht und die sich wie spitze, giftige Pfeile in ihre Seele bohren. Der Anblick der innigen Verbindung des tanzenden Paares lockert eine Schleuse in ihr, durch die ungeahnte Gefühle aufbrechen. Sie freut sich über das sichtbare Glück dieses Paars und empfindet zugleich einen tiefen Schmerz, der ihr zeigt, was sie in ihrem Leben vermisst. Wie lange will sie sich noch vergeblich bemühen, Hartmut zu helfen, die Welt mit freundlicheren Augen zu sehen? Die Rettung seiner Seele ist zu ihrem Lebensinhalt geworden, sie ist zu einem weiblichen Engel mutiert, der mit Heiligenschein vor einem Glas Wein sitzt, das sich bestürzend rasch leert. Der Mann, der wie ein Segelboot tanzt, ist kaum größer als die hingebungsvoll in seinen Armen schwebende Frau, und obwohl sein Blick mühelos über sie hinweg wandern könnte, hat er den ganzen Abend über nur Augen für sie. Wenn ein besonders melodischer Tango zu Ende geht, lassen sie sich, ohne ihre Umarmung aufzulösen, von einem Tanz in den nächsten gleiten, und nur gelegentlich lockern sie während einer Cortina ihre Arme und Beine. Sina malt sich aus, wie ihr Leben aussieht. Vielleicht lastet ein schweres Schicksal auf diesem Paar, von dem sie sich für glückliche Tango-Momente erholen. Vielleicht pflegt der Mann eine schwerkranke Frau, vielleicht lebt sie in einer Ehe, aus der sie nicht auszubrechen wagt. Vielleicht lieben sie sich und können kein Paar sein. Oder aber sie sind genau das: ein glückliches Paar, und diese Nacht ist nur ein kleiner Ausschnitt ihres allgegenwärtigen Glücks. 

Während vom anderen Ende des Saals Hartmut wie eine Planierraupe in Tango-Look anrückt, die ihre romantischen Fantasien platt walzen wird, träumt sich Sina in die Arme des Fremden mit dem sonnengegerbten Haar, der so selbstvergessen lieben zu können scheint wie sie selbst. (...) 


Der Tangomeister 

»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du mir einfach folgen sollst?« Mustafa öffnet die Arme, lässt sie los, durchbohrt sie mit wütenden Blick. 

»Ich kann machen, was ich will, du folgst einfach nicht. Ina erstarrt innerlich. 

»Was stehst du rum und starrst mich an?«
Sie fühlt sich in einen Kampf verwickelt, gegen den sie ohnmächtig ist, weil sie in Mustafa keinen Feind sehen kann, und wünscht sich, seine Wut wegzuzaubern wie in einem Märchen. In ihrem Inneren erzählt sie ihm die Geschichte ihrer Liebe, die wie ein Märchen begann, hält ihm vor, wie er strahlte, leuchtete, lachte, doch je mehr sie sich ins Zeug legt, desto größer wird seine Wut, ja, ihre Beschwörungen sind Öl auf das Feuer, das alles verbrennt wie die Sonne in der Sahara, er versengt ihr Hirn, ihre Herz, ihre Integrität, er will, dass sie zittert, vor ihm, ihrem Herrscher, hier, wo niemand zuschaut. In der Öffentlichkeit ist er anders, da nimmt er sie an der Hand, verbeugt sich mit ihr. Das Private, denkt Ina, ist noch immer politisch, und das Politikum ist, dass ich mich schuldig fühle, weil ich in einem reichen Land geboren worden bin. Solange Mustafa bei mir ist, lässt das Schuldgefühl nach. Ich hülle mich in seine Herkunft wie in einen Schleier, der mich entlastet, und genieße den liebenswürdigen Akzent der Worte, mit denen er mich schlägt. Wenn er mir Unrecht tut, dann doch nur, weil er selbst tief verwundet ist. Ich will seine Wunden, die Flucht und Migration ihm zugefügt haben, mit meiner Liebe heilen und spüre nicht, dass er es ist, der mir Wunden zufügt. 

Ina hat Angst vor ihm, deshalb kann sie nicht folgen.
Ihr Körper versucht sich vor ihm zu schützen. Sie fürchtet die Aggressivität, mit der er sie herumschleudert, die harten, abrupten Drehungen, seine kalten, schnellen Beinschüsse. Der Tango treibt sie auseinander, weil er Ina befreit hat. Sie genießt ihren Körper und gewinnt Spaß am Spiel seiner Bewegungsmöglichkeiten. Ihre Energie möchte sich mit Mustafa verbinden. Doch diese Verbindung ist blockiert. Zwar fühlt sie sich gelegentlich, wenn er sie über das Parkett fliegen lässt, wie eine Feder, doch die Verbin- dung zu ihm wird durch etwas gestört, das sich nicht einfach weg üben lässt, ja, je mehr sie sich technisch verbessern, desto deutlicher wird die Blockade. Mustafa behauptet, es sei Quatsch, dass es im Tango kein Richtig und Falsch gibt, das würden nur Dilettanten behaupten, die nichts können. Er fühlt sich als wahrer Tangomeister, im Unterschied zu Ina, die mit ihrer Wischi-waschi-Haltung nichts vom richtigen Tango versteht. 

Keine Disziplin, sagt er, kein Ehrgeiz, nur Sprüche, die sie sich angelesen hat. Ina tanzt Tango, weil sie Tango liebt. Mustafa verdient mit Tango sein Geld. Er ist ein strenger Lehrer und unterrichtet Tango wie eine olympische Disziplin, für die man hart trainieren muss, um nach oben zu kommen. Ganz nach oben, dort will er hin. Zur Weltmeisterschaft in Buenos Aires. Ina soll mit. (...) 

 

Tango zu dritt 

Der Himmel ist grau, die heiße Schokolade angenehm süß. In wenigen Minuten startet der Bus, der Mascha nach Prag bringen wird, mit einem Koffer voller Träume. Sie kann das Träumen nicht lassen, trotz des gestrigen verpatzten Dates. »Es ist kein Date«, protestierte sie halbherzig, als ihre Kinder darauf bestanden: »Es ist ein Date, du kannst es ruhig zugeben.« 

Das Date, das keins war, fand in einem thailändischen Restaurant statt, das um Mitternacht schließt. Es hätte auch ein chinesisches oder vietnamesisches Restaurant sein können, Mascha hätte den Unterschied nicht bemerkt. Niedrige Decken, goldene Drachenköpfe, rote Servietten und Berge von dampfendem Reis. Wolfgang wirkt stolz, es ihr zu zeigen. 

»Die Portionen sind riesig«, findet er. »Wir können ein Gericht teilen.« Während Mascha unschlüssig ihren Kopf hin und her wiegt, weil sie sich durch seinen Vorschlag unter Druck gesetzt fühlt, bestellt er eine Portion seines Lieblingsgerichts mit zwei Tellern. »Ist doch okay, oder?« Mascha nickt und fühlt sich zu langsam für diese Welt, in der rasend schnelle Entscheidungen gefällt werden, sie kommt immer zu spät. Curry mit Tofu, Kokosmilch und Gemüse, dazu Duftreis. Das hat er entschieden, ohne ihr Zeit zu lassen, etwas auszusuchen. Offenbar kommt er öfter hierher, kennt die Speisekarte auswendig und isst immer dasselbe, heute eben mit ihr. 

 

»Ernährst du dich vegan?« »Nein, wieso?« »Ich dachte, wegen des Tofus. Ich habe neulich...« »Und als Vorspeise lass uns diese Suppe nehmen, süß-sauer, das schmeckt wirklich toll. Musst du unbedingt auch essen, ich esse sie immer.« Mascha schaut ihn an und fragt sich, wie lange er wohl schon immer dieselbe Suppe isst, im selben Restaurant, seinen Teller teilend. Keine besondere Vertraulichkeit, sondern ein Ritual. 

»Für mich eine Portion Krabbenchips«, sagt sie. »Ich liebe Krabbenchips«. Als die Krabbenchips kommen, kann sie Wolfgang immerhin überreden, sich eins der kleinen knusprigen Wölkchen auf der Zunge zergehen zu lassen. Das Zergehen beeindruckt ihn nicht. »Schmeckt nach nichts«, sagt er und lacht, so dass die Grübchen in seiner Wange aufspringen. Mascha ist ein wenig in ihn verliebt, das geht schnell bei ihr und wird durch den Tango befördert. Sie kannten sich keine halbe Stunde, da lag sie in seinem Arm, wirbelte an seiner Brust über das Parkett, wickelte ihre Beine um seine, kokettierte mit ihrer Fußspitze vor seinen Schuhen, atme- te etwas ein, das nach Leidenschaft roch. (...) 

Eindeutiges Angebot 

Seine Schultern beugen sich über sie wie ein schwerer Schirm.
»Stell dich bitte aufrecht hin«, liegt Nora auf der Zunge, doch das wäre brüskierend und ist allenfalls erlaubt, um sich zu verteidigen. Vornübergebeugte Schultern aber stellen keinen Angriff dar. Also beschließt Nora, die Schultern, die wie ein riesiger Wattebausch auf sie herabsinken, zu ignorieren. Sie drückt ihre eigenen Schultern nach hinten in der Hoffnung, dass der Fremde sie imitiert. Er aber lächelt unbeirrt auf sie herab, ohne seine Watteschultern anzuheben, so dass Nora sich fragt, ob die wissenschaftlichen Untersuchungen zum sogenannten Chamäleon-Effekt mögli- cherweise den Gender-Aspekt vernachlässigt haben. 

Bereits vom Zuschauen weiß sie, dass der Fremde weniger mit den Frauen tanzt, als dass er sie betanzt, wie um sich an ihnen zu berauschen. Seine Nase vergräbt sich in ihr Haar, deren Duft ihn in einen tranceartigen Zustand zu versetzen scheint. Seine Füße schlurfen hypnotisiert hinter ihm her. Er ist auf Kuschelkurs, das ist deutlich zu sehen, und wenn Nora mit ihm tanzt, weiß sie ziemlich genau, worauf sie sich einlässt. Wie eine Käse witternde Maus lehnt sie sich lächelnd in eine Umarmung, die sich wie eine Falle um sie schließt. Die Musik setzt ein, es gibt kein Entrinnen. Obwohl die Neugier sie trieb, wissen zu wollen, wie es sich anfühlt, die Droge dieses hypnotisierten Mannes zu sein, ist die Innen-Ansicht beklemmend. Nora hat heftige Fluchtreflexe. Sie will raus aus dieser Enge, in die nun auch noch sein After Shave fließt. Ein angenehmes After-Shave, das ihre Sinne vernebelt. Worauf lässt sie sich hier ein? Der hypnotische Mann ist anziehend und beängstigend zugleich. 

Drei Minuten wird sie durchhalten. Drei Minuten, in denen er mit seinen Berührungen und seinem Duft in jede Pore ihrer Haut eindringt, bis sie nichts mehr spürt außer einem großen, schönen Körper, der sie will, wie sie ihn will — nur dass das nicht geht, an diesem Ort, in diesem Tempo. Um zu tanzen, brauchst du Abstand, denkt Nora. Du brauchst ein elastisches Band zwischen euch. Doch da ist kein Abstand und kein elastisches Band, da ist nur ein tiefes, eindeutiges Begehren, das sie an sich reißt, bis ihre Füße hilflos über den Boden taumeln, während sein Gesicht in ihrem Haar liegt und sich nicht entscheiden kann, wie sie das finden soll. 

»Olala«, lacht sie, als der erste Tango vorbei ist, löst sich aus seiner Umarmung und schaut zu ihm auf. Er ist ein schöner Mann, und wenn sie die Wahl hätte, würde sie nicht Tango mit ihm tanzen, sondern sich ihn in verlieben. (...) 

Lese 1
Lese 2
Lese 3
Lese 4
Lese 5
Lese 6
Lese 7
Lese 8
Lese 9
Lese 10
Lese 11
bottom of page